Beschreibung
PELAGEA
Berliner Materialien zur Frauenemanzipation 1970 bis 1984
Die Pelagea war von 1970 bis 1984 die Zeitschrift einer Anfang 1968 gegründeten Westberliner Frauengruppe, dem „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“. Im Dezember 1970 änderte sich die Selbstbezeichnung des Kollektivs zu „Sozialistischer Frauenbund Westberlin“. Die ersten Ausgaben der Pelagea entwerfen Vorhaben, Selbstverständnis, gemeinsam erarbeitete Statuten und Strukturen des Frauenbunds.
Um 1970, bei einer Quote von 70% nichtberufstätigen Frauen, fanden sich in ganz normalen „Sachverständigengutachten“ noch ernst gemeinte Sätze wie: „Die völlige Gleichstellung der berufstätigen Frau führt zu einer Vernichtung der Individualität von Mann und Frau und bringt die Gefahr der Bisexualität mit sich.“ Und im technologischen Kontext der „Einführung halb- und vollautomatischer Büromaschinen“ war die Ungleichstellung der Geschlechter absolut nicht subtil: „Da die weiblichen unqualifizierten Arbeitskräfte aber im allgemeinen billiger sind als diese Büroautomaten, wird ihre Leistungsfähigkeit in GP (= girl power) gemessen und ihre Anwendung davon abhängig gemacht, wie viele GPs sie jeweils zu ersetzen vermögen.“ So war die Ausgangslage:
FRAUEN verdienen durchschnittlich 40 %weniger als Männer.
FRAUEN bekommen die schlechtest bezahlten und miesesten Arbeitsplätze.
FRAUEN müssen neben ihrer Arbeit Haushalt und Kinder versorgen.
FRAUEN haben kaum Aufstiegschancen.
FRAUEN verlieren in einer Krise als erste ihre Arbeitsplätze.
DESHALB fordern wir:
– gleicher Lohn für gleiche Arbeit
– gleiche und bessere Ausbildung für Frauen und Männer!
– WEG mit der Akkordausbeutung!
– WEG mit dem verlogenen Leitbild der Nur-Hausfrau und Mutter!
– WEG mit der Diskriminierung der alleinstehenden Frauen!
– kostenlose Kindergärten für alle und Ganztagsschulen!
– Besserung des Mutterschutzes!
– Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung!
Mit der Zeit, von Ausgabe zu Ausgabe der Pelagea kamen mehr Themen, mehr Unterfangen hinzu, Sommerunis, Reisen (u.a. in die DDR), Rezensionen, Theaterstücke, Theorie-Erschließungen, Erörterungen zum Politikverständnis.
Die insgesamt 21 Pelagea-Ausgaben sind als historische Dokumente ihrer Zeit interessant, aber nicht nur. Getragen von der Hoffnung, in Gesellschaft einzugreifen, zeigen sie konkrete Schritte, Wege, Sondierungen und Denkprozesse, und im Rückblick lässt sich Erreichtes, Verworfenes und auch viel bis heute Uneingelöstes ausmachen.
2024 hat die feministische Sektion des InkriT mit Hilfe von Jo Grundmann alle Ausgaben abgelichtet und hier, im Argument Verlag, zum kostenlosen Download verfügbar gemacht. Einfach runterscrollen und aufs Cover oder aufs Datum der jeweiligen Ausgabe klicken.
Frigga Haug: Erinnern an Pelagea
Pelagea war nicht nur die unermüdliche Arbeiterin aus Twer, die Bert Brecht mit einem jahrelang im Berliner Ensemble gespielten Theaterstück lebendig bewahrte und der wir auch ein kämpferisch-lebendiges Mutterbild verdankten. Wir, eine Gruppe von sozialistischen Frauen im damaligen Westberlin, nannten unsere kleine Zeitschrift Pelagea nach dieser Gestalt.
Ich erinnere mich an die Stimmung des Aufbruchs, dass wir so viel verändern wollten, uns selbst und die Verhältnisse, in denen wir lebten. Wir hatten uns als sozialistischer Frauenbund gegründet, in erster Linie, um uns für die große Aufgabe zu schulen, zu lernen, zu lesen, dies gemeinsam zu tun und uns so wechselseitig bei der Stange zu halten. Wir hatten uns ein kompliziertes und doch auch einfaches Organisationskonzept ausgedacht: Jede übernahm beim Eintritt in unsere Gruppe die Verpflichtung, zwei Jahre zu lernen, um dann die Aufgabe des Lehrens zu übernehmen. Ein System, mit dem wir nach und nach das weibliche Volk von Westberlin erreichen und zu SchöpferInnen ihrer selbst ermutigen wollten. Dies war unsere Antwort auf die anhaltende Klage und Beschwerde, das Jammern als Ohnmacht zu überwinden und tätig zu werden. Bald erkannten wir, dass wir für die vielen Themen des Alltags ein Medium brauchten, nicht bloß Flugblätter, sondern eine richtige Zeitschrift: Pelagea. Brecht und »Die Mutter« hatten uns enorm beflügelt, das schwer zu Machende anzupacken. Unser erstes Gruppenplakat auf einer 1. Mai-Demo hieß: Alle sollen alles wissen. Die großen Worte des Verlangens wollten gefüllt werden: Alle mussten zugleich Lesende und Schreibende, Redende und Zuhörende werden: ein Aktivierungsdispositiv.
Wir haben die 14 Jahre unserer Zeitschrift Pelagea aus privaten Archiven vollständig zusammengetragen, dann in Faksimile-Form eingescannt, um sie nun digital zugänglich zu machen. Wir erhoffen uns, dass so nicht nur Geschichte aufgehoben und Vergangenes gegenwärtig wird, sondern auch, dass möglichst viele inspiriert werden, sich selbst zu Schöpferinnen eines hellwachen, stets weiter zu denkenden Bewusstseins zu machen.
Liest man Pelagea heute, bekommt man nicht nur ein Bild davon, wie es damals war, was bearbeitet wurde und wie. Man ist auch überrascht, wie viele Dimensionen der Gesellschaft, der Politik, vor allem der Lage der Frauen und ihren Möglichkeiten und Verhinderungen in diesen alten Ausgaben von 1970 bis 1984 aufgezeichnet sind. Wie ein bis heute gültiges Programm lesen sich die Inhaltsverzeichnisse der ersten Nummern, eine Sozialstatistik mit der Aufforderung, selbst auch tätig zu werden, als »Maulwurf der Revolution«. Obwohl es klar ein historisches Dokument ist, lädt es auch fast unmittelbar zum Einsteigen ein: nämlich dazu, sich als bewusste Veränderinnen ihrer selbst und ihrer Umstände (Feuerbachthesen von Marx werden lebendig) zu denken.
Wir sind gespannt, ob der Ball aufgenommen werden kann in dieser Zeit des Defaitismus, der Gleichgültigkeit und Lähmung, des ohnmächtigen Zorns und der Politikmüdigkeit von 2024, ob ein halbes Jahrhundert später das Feuer noch brennt – oder neu entfacht werden kann.
Frigga Haug, Oktober 2024