Beschreibung
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Die Autobiografie eines mit Leib und Seele engagierten linken Theologen: Nicht ob Gott existiert, ist Ton Veerkamps Frage, sondern was in einer Gesellschaft gerade als Gott fungiert wie heute das kapitalistische Weltsystem. Seine Geschichte führt von der Amsterdamer Kindheit im Krieg über US-Bürgerrechtsbewegung, Ruf nach Berlin, Friedensbewegung und die trüben 90er bis heute.
»Links sein und Engstirnigkeit schließen sich für mich aus.«
Mitreißend, anekdotenreich und geschichtsbewusst erzählt Ton Veerkamp sein Leben von der Kindheit in Kriegszeiten bis heute, ein Weg, der ihn von Amsterdam über Umwege nach New York und schließlich nach Westberlin brachte: vom Banklehrling zum Jesuiten und dann zum Studentenpfarrer, der 28 Jahre lang ausländische Studierende beriet und nicht selten ihr Überleben ermöglichte.
Der Werdegang des ebenso bündnisfähigen wie unbestechlichen Aktivisten, prägende Gestalt der Westberliner Friedensbewegung, spiegelt akute gesellschaftliche Konflikte und geopolitische Entwicklungen. Alles zeugt von dem Willen, die Lektüre der Bibel nicht als frommes Hobby zu betreiben, sondern als politische Schulung zur Lösung drängender Probleme. Eine lebenslange Suchbewegung mit dem Credo: Es gibt immer eine Alternative.
»Wir wuchsen auf in einer westeuropäischen Umwelt, wo es dreißig Jahre lang nur aufwärts ging, danach bis zum neuen Jahrhundert auf hohem Niveau stagnierte. Heute wissen alle, dass die nächste Krise kommt wie das Amen in der Kirche.«
Inhalt:
Erster Teil: Amsterdam
1 Kindheit
Die Straße
Die Eltern
Schuljahre, Kriegsjahre
Hunger
Ameland
Nach dem Krieg
2 Jugend
Ignatiuskolleg
Banklehre
Wieder zur Schule
3 Jesuit
Zwei Jahre Probezeit
Jan – Kirche und Homophobie
Unter Philosophen
Maastricht
Zweiter Teil: New York
Union Theological Seminary
Über allen der Schatten von Vietnam
Eine andere Theologie
Sommer 1967 in der DDR
Ein turbulentes Jahr
Dritter Teil: Berlin
1 Fremd in einem fremden Land
Niemandsland
Eine vorübergehende Stelle – auf Lebenszeit
Orte
2 Evangelische Studentengemeinde – ein politischer Auftrag
Korea, Israel, Vietnam
»Lass die Blöden toben« – K-Gruppen und Revisionisten
Deutscher Herbst
Tunix
Iran
3 Das zweite Gleis
Theologie und Politik
Eine falsche Frage: Gibt es »Gott«?
4 Friedensbewegung
Ein schwieriges Bündnis
Die Reagan-Demonstrationen. Der Hilfskellner
5 Ökonomische Alphabetisierung
Ein neues Fach lernen
Internationale Solidarität
6 Die trüben Jahre neunzig
Verfassungsschutz, Stasi, »Linke Liste«
Die Schulden fraßen den Sozialismus
Einfach weitermachen
Schluss der Veranstaltung
7 Das Wissen bewahren
Umzug während eines Krieges
Wie die alten Mönche
Nachwort
Beethoven, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat, setzt den Schlusspunkt. Nicht die Symphonien, die Musik meiner Jugend. Seit die 9. Symphonie regelmäßig vor dem Brandenburger Tor aufgeführt wird und ihr Finale zur Hymne der Europäischen Union geworden ist, kann ich diese Musik nicht mehr hören, ohne das Gefühl zu haben, dass sie missbraucht wird. Beethoven schrieb die Symphonie in der dunklen Zeit der polizeistaatlichen Regulierung Europas, die mit dem Namen Metternich verbunden ist. Mit der 9. Symphonie wollte er ein Zeichen setzen: gegen die Knechtung der Menschen, gegen die Knebelung der Gedanken, gegen die Polizei in Österreich, Preußen, Frankreich usw., für die großen Ideen der Französischen Revolution. Mir scheint, dass die Europäische Union und die deutsche Einheit doch etwas anderes sind als Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bzw. Solidarität. Viel Solidarität vermag ich in der Unordnung der freien Märkte nicht zu erkennen. Darum höre ich jetzt Beethovens späte Sonaten und Streichquartette.
In seinem letzten Lebensjahr schrieb Beethoven das Quartett op. 130. Der vorletzte, langsame Satz, Cavatina, verströmt eine abgrundtiefe Trauer. Nach der Wiederholung des Hauptthemas folgt eine kurze Passage, in der die Musik fast auseinanderfällt. »Beklemmt« schreibt Beethoven als Vortragsbezeichnung, und beklemmend ist die Cavatina tatsächlich. Die Musik fasst sich wieder, aber die Trauer und die Beklemmung setzen sich fest, es gibt, so scheint es, kein Entrinnen. Aber dann folgt ein sehr langer Schlusssatz, der später Große Fuge genannt wurde. Nach den letzten Tönen der Cavatina bricht die Gewalt der Großen Fuge los, dieses trotzige Dennoch eines sehr kranken, vollständig tauben Mannes gegen sein Elend und gegen das Elend der Metternich’schen Welt. Abgrundtiefe Trauer und dieser Trotz streiten darin um die Oberhand. Die meisten Menschen konnten damals – und können wohl auch heute – mit dieser Musik nichts anfangen, deshalb verlangte der Verleger von Beethoven ein neues, gefälligeres Finale. Verleger wollen leben, auch der Komponist wollte leben. Beethoven stand finanziell fast immer am Rande des Ruins und hatte das Salär für das neue Finale dringend nötig. Dieses Allegro war seine letzte Komposition. Es ist tatsächlich ein charmantes und gekonnt gemachtes Stück Musik, aber neben der Cavatina und der Großen Fuge wirkt es doch etwas abgeschmackt. Ich will und muss mir die ursprüngliche Musik zumuten. Nichts geht mehr, und trotzdem muss aus dieser Welt doch etwas Besseres werden – das muss ich mir immer wieder sagen lassen, von Beethoven, von anderen Menschen, von der Enkelgeneration.
Auf einem Symposium in Amsterdam anlässlich der Vorstellung der niederländischen Übersetzung von Die Welt anders im September 2014 fragte mich Wolf Haug, was mich all die Jahre politisch in Gang gehalten hat. Ich antwortete: Erstens: das Kind von Marianne und mir. Wer ein Kind in die Welt setzt, hat die permanente Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass diese Welt eine menschenwürdige ist. Zweitens: Ich hatte das Privileg, dass ich zeitlebens mit aufrichtigen und wahren Menschen zusammen sein konnte: in meiner Amsterdamer Familie, mit den Jugendfreunden, bei den Jesuiten, mit den Freundinnen und Freunden in New York und bei meiner Arbeit in Berlin und anderswo, und vor allem mit meiner Frau, unserer Tochter, ihrem Mann und den zwei Enkelkindern. Sie waren und sind es, die mir einen aufrechten Gang möglich machen – sei es auch mit Hinfallen und Wiederaufstehen.
Von diesen Menschen handelt meine Erzählung, die ich den zwei Enkeln als Vertretern ihrer Generation gewidmet habe.
Lemgow-Schmarsau, Sommer 2019