Beschreibung
FKP/NF 04
Psychotherapie
Die Beiträge zum Schwerpunktthema Psychotherapie beantworten Fragen nach dem Verhältnis von Kritischer Psychologie und Psychotherapie sowie nach den Perspektiven für eine »Kritische Psychotherapie« unterschiedlich, teils kontrovers. Sie setzen die bereits in den 1970er und 1980er Jahren begonnene und u.a. auf der Ferienuni 2018 wiederbelebte Debatte fort, auch vor dem Hintergrund, dass Kritische Psycholog:innen beruflich in diesem Feld tätig sind.
Leonie Knebel stellt eine empirische Psychotherapieprozessstudie vor, die auf Interviews mit Patientinnen und Patienten ambulanter Verhaltenstherapien beruht. Anhand von drei Falldarstellungen arbeitet Knebel Zusammenhänge zwischen den depressiven Beschwerden der Befragten und den Anforderungen der Emotionsarbeit im Dienstleistungssektor heraus. »Emanzipatorische Potenziale verhaltenstherapeutischer Praxis« sieht sie u.a. in einer an Karl Marx anknüpfenden Auffassung von menschlicher Entwicklung als »sinnlicher Praxis«, im »Mitdenken« der jeweils relevanten gesellschaftlichen Bedingungen und in einer »Stärkung personaler Handlungsfähigkeit ohne Personalisierung«. Mit Klaus Holzkamp stellt sie fest, dass innerhalb des Paradigmas der Kritischen Psychologie unterschiedliche Theorien und Therapieformen denkbar sind.
Boris Friele entwickelt zwei Lesarten: In der »harten« Lesart sind Kritische Psychologie und Psychotherapie unvereinbar, vor allem weil in Texten von Klaus Holzkamp und Ute Osterkamp postuliert werde, dass zur Überwindung beeinträchtigter Lebensperspektiven eine bloß innerpsychische Aktivität nicht ausreiche; vielmehr bedürfe es einer praktischen Veränderung gesellschaftlicher Lebensbedingungen, die jedoch nicht zu den Aufgaben konventioneller Psychotherapie gehöre. Möglicherweise gebe es aber – im Rahmen einer »weichen« Lesart – Schnittstellen zwischen Kritischer Psychologie und Psychotherapie im Hinblick auf die Frage »nach der Art des Stellenwerts und der Art der Bedeutung kindlicher Erfahrungen für die psychische Verfassung in der Gegenwart der Erwachsenen«, die nicht allein auf der Ebene der kritisch-psychologischen Analyse psychologischer Grundbegriffe zu ermitteln seien.
Erik Petter formuliert als »Anliegen einer Kritischen Psychotherapie«, »die gesellschaftlichen Bedingtheiten individuellen Leidens sowie die grundsätzlich gegebene Möglichkeit zu deren Veränderungen in den psychotherapeutischen Prozess einzubeziehen.« Petter reinterpretiert den Personzentrierten Ansatz nach Carl Rogers und fasst die potenzielle Inkongruenz zwischen organismischem Befinden und bewusstem Selbst als Widerspruch zwischen emotionaler und kognitiver Weltbegegnung im Sinne der Kritischen Psychologie.
Das Verhältnis von Kritischer Psychologie und ›systemischem Denken‹ untersucht Boris Friele in seinem zweiten Beitrag zum Heftschwerpunkt. Gemeinsamkeiten sieht er u.a. in der Kritik an personalisierenden bzw. ›monadischen‹ Erklärungen für psychische Beschwerden und in der Betonung »kategorialer Fragen«; Gegensätze ergäben sich aus einer fehlenden Richtungsbestimmung für soziale Veränderungen sowie aus dem »Wahrheitsrelativismus« und »Subjektivismus« im systemischen Denken.
Zudem erläutern Psychotherapeutinnen und Therapeuten verschiedener Richtungen in kurzen Texten und Interviews die Bedeutung der Kritischen Psychologie für ihre praktische Tätigkeit. Die Beitragenden sind (in alphabetischer Reihenfolge) Margret Kleinmanns, Tobias Pieper, Silvia Schriefers und Sylvia Siegel. Die Textformate tragen dem Umstand Rechnung, dass in der Berufspraxis oft kaum Zeit zum Schreiben bleibt und dass es bekanntlich ohnehin schwierig ist, über Praxis zu schreiben.
Außerhalb des Heftschwerpunkts präsentiert Stephan Trautner eine empirische Studie zu Motiven von Krankenhausbeschäftigten, an Arbeitskämpfen teilzunehmen. Anknüpfend an Beiträge zur kritisch-psychologischen Gewerkschaftsforschung arbeitet er idealtypische Muster heraus, mit denen Beschäftigte die Notwendigkeit von Solidarität sowie die Erweiterung gemeinsamer Handlungsspielräume begründen. Robin Ebbrecht analysiert pseudoempirische Elemente in umweltpsychologischen Untersuchungen, die sich auf Icek Ajzens häufig verwendete Theorie des geplanten Verhaltens stützen. Angesichts der sich dramatisch zuspitzenden ökologischen Krisen kommen der Kritik der herkömmlichen Umweltpsychologie und der Alternative einer Kritischen Umweltpsychologie, an die Ebbrecht anknüpft, eine herausragende Bedeutung zu.
Redaktion dieser Ausgabe: Nora Dietrich, Ulrike Eichinger, Arnd Hofmeister, Leonie Knebel, Christian Küpper, Hans-Peter Michels, Thomas Pappritz, Katrin Reimer-Gordinskaya, Santiago Vollmer, Eileen Wengemuth, Michael Zander
Kontakt: fkp@kritische-psychologie.de
Inhalt
In diesem Heft:
■ Morus Markard
Trauerrede für Gisela Ulmann (23.04.1941–18.03.2022)
■ Leonie Knebel
Depression und Dienstleistung. Zum emanzipatorischen Potential verhaltenstherapeutischer Praxis
■ Boris Friele
Bieten die Kategorien der Kritischen Psychologie Anknüpfungspunkte für die Entwicklung psychotherapeutischer Konzepte?
■ Erik Petter
Auf dem Weg zu einer Kritischen Psychotherapie. Einige Impulse aus (einer Kritik an) der personzentrierten Therapiekonzeption
■ Boris Friele
Zum Verhältnis von Kritischer Psychologie und ›systemischem Denken‹ in Bezug auf die Möglichkeit, Psychotherapie theoretisch zu fundieren
■ Tobias Pieper
»Kritisches Durchdringen bedeutet, eigene Rollen und Positionen zu hinterfragen«: Kritische Psychologie in der verhaltenstherapeutischen Praxis
■ Silvia Schriefers
Es gibt keine Beliebigkeit der Standpunkte
■ Margret Kleinmanns
»… dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und nur vor dem Hintergrund seiner Lebensbedingungen verstanden werden kann.«
■ Sylvia Siegel
»Menschen leben in gesellschaftlichen Zusammenhängen – was macht das mit ihnen?«
■ Stephan Trautner
Arbeitskämpfe im Krankenhaus – was bewegt die Aktivist_innen?
■ Robin Ebbrecht
Pseudoempirie und Individualisierung: Zur Theorie des geplanten Verhaltens und ihrer Anwendung in der Umweltpsychologie