Beschreibung
Nicht zuletzt im Kontext der Postkolonialen Studien ist Antonio Gramscis Begriff der Subalternen bis heute in aller Munde. Gramsci entwickelt ihn erst in den Gefängnisheften und stellt ihn dort auch – nicht ausschließlich – in den Zusammenhang der »Frage des Südens«, also der strukturellen ökonomischen, sozialen und politischen Ungleichheit in Italien, die die Hegemoniefrage auch zu einer territorialen macht.
Dieser Reader enthält in Erst- bzw. Neuübersetzung mehrere ›Frühschriften‹ aus den Jahren 1919–1926, in denen Gramsci die politische Bedeutung der Südfrage für die hegemoniale Strategie der italienischen Arbeiterbewegung herausarbeitet. Der berühmte Aufsatz »Einige Gesichtspunkte der Südfrage« (1926) hat Scharnierfunktion zum großen politisch-philosophischen Hauptwerk. Er steht hier im Verbund mit Gramscis Beitrag zum III. Parteitag des PCI, bekannt geworden als »Thesen von Lyon«, sowie Artikeln aus dem Ordine Nuovo. Die kommentierte Neuübersetzung integriert den Stand der intensiven Reflexion zu Gramscis Sprache und Begrifflichkeiten in den Gefängnisschriften.
Der zweite Teil des Readers versammelt die Auszüge aus den Gefängnisheften, in denen die Analyse der Südfrage aufgegriffen und weiterentwickelt wird, sowie die zentralen Stellen zur Theorie der Subalternen, die verdeutlichen, dass es sich dabei keineswegs um ein Tarnwort für das Proletariat handelt und die subalternen gesellschaftlichen Gruppen auch nicht unbedingt im Süden zu finden sind, sondern »an den Rändern der Geschichte«.
Herausgegeben von Ingo Pohn-Lauggas
Inhalt
Vorwort von Guido Liguori,
Präsident der International Gramsci Society
Ingo Pohn-Lauggas: Südfrage und Subalterne bei
Antonio Gramsci. Zur Einführung
Teil I
Ausgewählte Schriften zur Südfrage (1919–1926)
Arbeiter und Bauern
Der Parteitag von Livorno
Brief zur Gründung der Zeitung L’Unità
Die »Thesen von Lyon«
Einige Gesichtspunkte der Südfrage
Personenglossar
Teil II
Südfrage und Subalterne in den Gefängnisheften (1929–1935)
Editorische Einleitung
1. Die Frage des Südens
2. Subalterne
2.1 Subalterne als »Klasse«
2.2 An den Rändern der Geschichte
Anmerkungsapparat
Abkürzungen und Siglen
Vorwort
Die in diesem Buch versammelten Texte Antonio Gramscis erhalten besondere Bedeutung durch den Gesichtspunkt, nach dem sie ausgewählt wurden: die »Südfrage« mit den Überlegungen zu den »subalternen Klassen« in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise lässt sich nämlich eine Kontinuität in Gramscis Denken über sein gesamtes politisches und intellektuelles Leben hinweg erfassen, von den Artikeln der »Turiner Phase« bis zu den Gefängnisheften.
Die Texte, die ab 1919 im Ordine Nuovo erschienen sind, widerlegen die Legende, der Gramsci der Fabrikräte sei zu sehr in der Turiner Arbeiterbewegung aufgegangen, um sich der politischen Bedeutung der Landarbeiter vor allem Süditaliens bewusst zu werden. Vielmehr tritt Gramsci ein für ein föderales Bündnis zwischen dem Industrieproletariat des Nordens und den Bauernmassen des Südens – ein im damaligen Italien eher unbekanntes Modell, nicht aber für den Sarden Gramsci, der mit den Autonomie-Bewegungen Sardiniens gut vertraut war. Darin kann man ein Beispiel für den spezifischen Begriff von »Übersetzung« sehen, den Gramsci in den Gefängnisheften entwickelt: Es geht nicht einfach um die Übertragung einer Politik oder einer Losung von einer Sprache in eine andere, sondern von einem historisch-politischen Zusammenhang in einen anderen und damit auch in eine andere Kultur – mit allen Anpassungen, die dafür notwendig sind.
Gramscis Aufsatz zur Südfrage von 1926 wiederum muss man als Bindeglied zwischen den Texten, die vor der Verhaftung entstanden sind, und den Gefängnisheften betrachten. Er belegt, dass es nicht ›unterschiedliche Gramscis‹ gibt, sondern einen im Wesentlichen einheitlichen Denker: Er entwickelt seine Auffassungen in bestimmten geschichtlichen und politischen Konstellationen und erweitert sie dann, wie in den Thesen von Lyon, um seine Kenntnisse vom internationalen Kommunismus – aber die Grundmotive, die er in seinen jungen Jahren formuliert, kehren unverkennbar im reifen Denken der Gefängnishefte wieder. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen den politischen Strategien Gramscis als aktiver Teil einer revolutionären Bewegung und den Gefängnisschriften, deren Inhalte die Kommunistische Partei Italiens zumindest in Teilen beeinflussen sollten und die in der richtigen »Übersetzung« auch einen Beitrag zu ihrem Aufstieg nach dem Fall des Faschismus leisteten.
Aus diesem Grund sind diese Schriften auch zentral für die folgende theoretische Auseinandersetzung mit Gramsci. Man denke nur an die Intellektuellen-Frage, deren historische und soziologische Behandlung einen der roten Fäden in den Gefängnisheften darstellt, die aber schon 1926 aufgeworfen wird, wenn Gramsci die tragende Rolle der Intellektuellen in den Machtverhältnissen Süditaliens analysiert. All dies kehrt in der bekannten Unterscheidung zwischen traditionellen und organischen Intellektuellen wieder, und es sind Letztere, denen eine wesentliche Funktion zukommt für den Weg aus der Subalternität. Dies wiederum ist ein Konzept, das in der anthropologischen Debatte der 1940er und 50er Jahre heftig diskutiert wurde, in der Blütezeit der Gramsci-Rezeption in den 70ern jedoch nahezu »vergessen« wurde. Erst in den letzten Jahrzehnten wird ihm wieder große Aufmerksamkeit zuteil, nicht zuletzt auf internationaler Ebene, was sich seiner Wiederentdeckung und Inanspruchnahme durch die indischen Subaltern Studies verdankt. Auch wenn diese Rezeption nicht frei von Missverständnissen ist, zeigt sie, wie weltumfassend die Auseinandersetzung mit Gramsci heute ist: Auch hier gilt, was in den Gefängnisheften zu lesen ist, nämlich »dass die Welt eine Einheit ist, ob man will oder nicht«.
Die Themen, die in diesem Sammelband behandelt werden, sind also von grundlegender Bedeutung für das Denken Gramscis. Dass sie dem deutschsprachigen Publikum auf diese Weise zugänglich gemacht werden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem besseren Verständnis des sardischen Marxisten, und die hier geleistete Arbeit stellt einen wertvollen Beitrag zur Stärkung der internationalen Gramsci-Forschung dar. Das Gesamtwerk des Autors der Gefängnishefte ist heute als Welterbe zu betrachten, und die Kenntnis seines Denkens ist ein wichtiges Element der kulturellen Einigung. Hierzu leistet das vorliegende Buch einen Beitrag, der sehr zu begrüßen ist.
Guido Liguori
Präsident der International Gramsci Society