Wem gehört die Stadt?
Das Klimpern eines Plastikpianos in einer Unterführung lässt Privatdetektivin V. I. Warshawski nicht mehr los. Auf den Spuren der obdachlosen Musikerin durchstreift sie die Ufermeile am Lake Michigan, wo ein neues Bauprojekt geplant ist. Doch nach einem Eklat bei der Stadtteilversammlung gibt es Tote. Wer betreibt hier Stadtentwicklung mit dem Holzhammer?
Chicago, Moloch am Lake Michigan, Hochburg der Wirtschaftswissenschaften: Hier ist Warshawski aufgewachsen, in einem Stadtteil mit Sozialwohnblocks und kleinen Einfamilienhäusern, Industrie- und Gewerbezonen, hoher Kriminalitätsrate, neuerdings gentrifiziert. Die Gemüter sind erhitzt, denn ein Landgewinnungsprojekt am Seeufer soll zügig durchgewunken werden, doch in den Augen mancher Anwohner stinkt die Sache nach dicken Investoren und gekauften Politikern. Als Wirtschaftsermittlerin kennt Warshawski ihr Chicago: Geld wandert von Hand zu Hand, und schon am nächsten Tag sind Gebäude und Parks dem neusten Milliardenprojekt gewichen. Aber was hat die verwirrte Obdachlose damit zu tun, die ihrem Plastikpiano so grandiose Melodien entlockt? Und warum ist sie plötzlich spurlos verschwunden?
#saraparetsky
Vorbemerkung der Ariadne-Herausgeberin
V. I. Warshawskis zwanzigster Romanauftritt beginnt mit einer fröhlich entgleisenden Stadtteilversammlung. Es geht in Landnahme um Musik und Politik, um die Metropole und ihre Geschichte, um Prärie und Ackerbau, um das Spannungsfeld Wirtschaft und Demokratie: Wem gehört das Land? Wem gehört die Stadt?
Meisterin Sara Paretsky erzählt in dieser mit schillernden Gestalten bevölkerten Krimi-Oper auch von Verbrechen, die dem rechtsstaatlichen Radar entgehen. Eine Stadt wie Chicago (oder Berlin, oder sonst eine Stadt) ist ein hyperkomplexes Gebilde aus Menschen, Bauten, Infrastruktur, Politik und Zivilgesellschaft, durchsetzt/zersetzt von Gier und Hybris elitärer Eminenzen, die sich am urbanen Lebensraum bereichern und ihn ausbluten, so wie auch das Land, so wie alle Ressourcen des Planeten, rechenschaftsfrei, ohne sanktioniert zu werden – von wem auch? Wer blickt durch, ohne mit drinzuhängen?
Ich lese Landnahme als Ode an die Aufklärung, bin erinnert an das Geschichtswerkstätten-Motto »Grabe, wo du stehst«, ab den 1980ern weltweit Methode gesellschaftspolitischer Geschichtsaufarbeitung. Das Ziel: demokratische Selbstermächtigung durch Zutagefördern der Geschichte der eigenen Lebensbedingungen, um die Deutungsmacht nicht herrschenden Eliten zu überlassen, um sich kollektiv als historische Akteur*innen zu begreifen, um Gegenwart und Zukunft mitzugestalten. Erforscht werden von der dominanten Erzählung marginalisierte Themen und Lebenswelten: Werktätige, Frauen, Randgruppen, Nichtweiße, Geschichten von Unterdrückung und Widerstand. Die Menschen eignen sich das Geschehen in der Gesellschaft an.
Für mich verkörpert V. I. Warshawski diese Maxime so konsequent und zeitgemäß wie kaum eine Gestalt in der Kriminalliteratur. Ihr vehement engagiertes Interesse an den diversen Realitäten treibt sie an. Unabhängig und unermüdlich gräbt sie, wo sie geht und steht, buddelt verdrängte und verschwiegene Wahrheiten aus, kassiert Belehrungen und Blessuren, ohne klein beizugeben, auch wenn sie nicht siegen kann. Möge ihr rechtschaffen forschender Geist einige von uns anstecken. Unsere Welt braucht dringend viele Warshawskis.
Else Laudan