Beschreibung
»Sie sitzen schon, mit hohen Augenbrauen / Gelassen da und möchten gern erstaunen«, heißt es im Faust. Doch die Wirklichkeit ist anders. Im Parterre gibt es keine Sitzplätze, die den Blick der Zuschauer zwangsläufig auf die Bühne ausrichten würden; ausschließlich männliche Zuschauer kommentieren lautstark das Geschehen und drehen der Bühne nicht selten den Rücken zu, weil hinten im Saal oder oben auf den Rängen gerade das interessantere Schauspiel stattfindet. Im 18. Jahrhundert sind wir noch weit entfernt von den Momenten vollkommener Illusion, die sich Stendhal gewünscht hat. Und doch wird gerade das Theater zu einem der Orte, an denen die Produktion eines neuen gesellschaftlichen Subjekts betrieben wird – eines zivilen Helden, der den adligen Müßiggänger wie den soldatischen Typus in den Schatten stellt. Der zivile Held bezieht sein Selbstverständnis aus nützlicher Tätigkeit – nützlich für die vielen, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen. Wie Diderots Enzyklopädie den nützlichen Wissenschaften ein Forum geboten hat, so das Theater dem zivilen Helden, der eine neue Lebensweise vorführt. Zum Bahnbrecher der modernen Welt, wie Gramsci sagt, wird nicht derjenige, der sich vor allem mit den Beziehungen zwischen Höflingen beschäftigt, sondern derjenige, der »Ratschläge zur Erbauung des Typus des Bürgers in der Zivilgesellschaft« gibt.
Inhalt
Einleitung / Teil I: Frankreich / Kap. 1 Die Eroberung des Theaters durch die Literatur / 1.1 Die moralische Ökonomie des öffentlichen Platzes / 1.2 Der Aufstieg des Schauspielers in die société civile / 1.3 Die Konstitution des Zuschauers / 1.4 Die Entwicklung des Spielortes zur Schaubühne / Kap. 2: Das literarische Regime: Text und Aufführung / 2.1 Das gegliederte Ganze des literarischen Theaters: Lehre – Werk – Aufführung / 2.2 Der Autor als haftbares Subjekt / 2.3 Die Installierung der doctrine classique / 2.4 Die Festigung des neuen Kompetenzgefüges durch die Entmachtung der Sinne / Kap. 3 Die umkämpfte Stellung des Lachens im Theater des Ancien Régime / 3.1 Molière und die gesellschaftskritische Funktion des Lachens / 3.2 Karnevaleskes und klassisches Lachen / 3.3 Das Lachen als »Dokument« der Geschichte der subalternen Klassen / 3.4 Die Dialektik von kirchlicher und bürgerlicher Theaterkritik / Kap. 4 Kulturelle Hegemonie der bürgerlichen Gruppen: der Umbau des Theaters zur »moralischen Anstalt« / 4.1 Das drame bourgeois als »Moral in Aktion« / 4.2 Sensibilität und Kommerz / 4.3 Das Patriarchat als Befreiungskonzept / 4.4 Der Schauspieler als Künstler eines wissenschaftlichen Zeitalters / 4.5 Das gesellschaftliche Dispositiv des drame bourgeois – bürgerliche und Zivilgesellschaft / 4.6 Zur emanzipatorischen Funktion des Lachens bei Diderot / Teil II: Spanien / Kap. 1 Einleitung / Kap.2 Die Theaterverhältnisse zu Beginn des 17. Jahrhunderts / Kap. 3 Das popular-nationale Theater im 18. Jahrhundert in der »kulturellen Ökonomie« des Volkes / 3.1 Der theatrale Raum / 3.2 Die komische Figur / 3.3 Struktur der Aufführung und Illusionsproduktion / Kap. 4 Die moralisch-intellektuelle Reform des neoklassischen Projekts / 4.1 Die Produktion ziviler Helden / 4.2 Die aufklärerische Entmischung von »vulgo/plebe« und »pueblo« / 4.3 Das neue Subjekt und die Geschlechterverhältnisse / 4.4 Die Literarisierung der Theaterverhältnisse / Kap. 5 Ausbruch aus dem Intellektuellenzirkel – das Theater als Projekt einer Aufklärung von unten / 5.1 Die intellektuelle und moralische Reform der Zweiten Republik / 5.2 Das »Entstauben« des klassischen Theaters durch Federico García Lorca
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