Beschreibung
In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Zuständigkeit für Gesundheit mehr und mehr dem Verantwortungsbereich der Einzelnen zugeschrieben. Dieser Trend ist durch zwei hoch ideologisierte, sich nur scheinbar widersprechende Topoi geprägt: Zum einen durch die Forderung nach mehr Selbst- oder Eigenverantwortung, also für seine Gesundheit selbst zu sorgen und im Bedarfsfall der Allgemeinheit nicht zur Last zu fallen. In dieser Lesart ist das Gesundheitssystem wie andere Politikfelder auch Gegenstand sozialstaatlicher Deregulierung, wobei es sich bei einem solchermaßen neoliberal gewendeten Begriff der „Selbstverantwortung“ gerade nicht „um die Verantwortung gegenüber dem ‚Selbst’, sondern des ‚Selbst’ gegenüber dem politisch-ökonomischen Status quo“ handelt. Zum anderen durch die Forderung nach einer Anpassung des Lebensstils an umfassende Gesundheitsimperative, denen ein normiertes, vorwiegend funktionalistisch orientiertes Gesundheitsideal der „gesunden Lebensführung“ zugrunde liegt. In dieser zweiten Lesart lassen sich politisch motivierte Interventionen erkennen, die regulierend-direktiv das Gesundheitsverhalten im Sinne einer Verantwortungs- und Pflichtzuweisung an das Individuum beeinflussen wollen. Für beide Aspekte gilt: widerspenstiger Eigensinn, der sich diesen Normierungen entzieht, oder gar Verstöße gegen diese Imperative werden mit Sanktionierungen und Disziplinierungen belegt. Dieser Trend wirft vielfältige Fragen auf, denen dieser Band des JKMG nachgeht.
Inhalt:
Editorial
Rolf Rosenbrock im Gespräch mit Anja Dieterich und Klaus Stegmüller
Daphne Hahn: Prinzip Selbstverantwortung? Eine Gesundheit für alle? Verschiebungen in der Verantwortung für Gesundheit im Kontext sozialer Differenzierungen
Bettina Schmidt: Die Sanierung der Eigenverantwortung – Oder: Vom Gesundheitsgehorsam zur Gesundheitsermächtigung
Kathrin Ottovay: I got a brain in there! ‚Gesund essen’ im Spannungsfeld von Selbstermächtigung und Aktivierungsimperativ. Ein britisches Fallbeispiel
Silke van Dyk und Stefanie Graefe: Fit ohne Ende – gesund ins Grab? Kritische Anmerkungen zur Trias Alter, Gesundheit, Prävention
Andrea Radvanszky: Die Alzheimer Demenz als soziologische Diagnose
Anja Dieterich: Krankenversorgung als Hilfe zur Selbsthilfe? Risken und Nebenwirkungen von Idealvorstellungen eigenverantwortlicher Patient/-innen für die Versorgungsgestaltung
Kommentar – Waldemar Streich: Drei Empfehlungen an die Apostel des Selbstmanagements der Gesundheit