Beschreibung
Antonio Gramsci Gefängnisbriefe Band IV
Briefwechsel mit der sardischen Familie 1926–1936
Herausgegeben von Ursula Apitzsch, Peter Kammerer und Aldo Natoli (†)
Übersetzt von Ursula Apitzsch, Peter Kammerer und Elisabeth Schweiger
Mit einer Einleitung von Ursula Apitzsch und Peter Kammerer
Band IV der GEFÄNGNISBRIEFE enthält die Korrespondenz Antonio Gramscis mit der sardischen Familie sowie einen Anhang mit Briefen an andere Empfänger. Darüber hinaus komplettiert Band IV die Gesamtausgabe der GEFÄNGNISBRIEFE durch ein Personenregister aller vier Bände im Anhang.
Die in verschiedenen Gefängnissen verfassten Briefe Gramscis zeigen den politischen Gefangenen Gramsci in Haft, nach Post gierend, erpicht auf Nachrichten aus dem Alltag und mit den Jahren zunehmend depraviert.
In seinem Dialog mit den Angehörigen erkennt man die Dynamik der Beziehungen, die ausgeprägten Charaktere und Echos früherer Zeiten, aber auch Antonio Gramscis Haltung und seine Zuneigung.
26. Februar 1927
»Es geht mir gut, soweit dies möglich ist. Ich habe eine Zelle, für die ich bezahle, d.h. ein ziemlich gutes Bett. Ich habe einen Apparat zur Verfügung, um das Essen warm und um mir Kaffee zu machen. Ich lese sechs Zeitungen am Tag und acht Bücher in der Woche, dazu noch illustrierte und humoristische Zeitschriften. Ich rauche die Zigarettenmarke Macedonia. Also, materiell gesehen leide ich an keinem spürbaren Mangel. Ich darf nicht schreiben, wann ich will, und die Post kommt sehr unregelmäßig. Das schon.«
(Antonio Gramsci an seine Mutter aus dem Untersuchungsgefängnis Mailand)
März 1927
»Ich sehe alles kaltblütig und ruhig und bin, auch wenn ich mir keine kindlichen Illusionen mache, fest davon überzeugt, dass ich nicht dazu bestimmt bin, im Gefängnis zu verfaulen. Du und die andern, ihr müsst alles tun, damit Mama fröhlich bleibt, und müsst ihr versichern, dass meine Ehrenhaftigkeit und Rechtschaffenheit in jeder Hinsicht außer Frage stehen: ich bin aus politischen Gründen im Gefängnis.«
(Antonio Gramsci an Teresina Paulesu aus dem Untersuchungsgefängnis Mailand)
12. September 1927
»Ich glaube, es sind jetzt fast 22 Jahre, dass ich die Familie verlassen habe. Nun, ich habe in dieser ganzen Zeit nie den Herrn gespielt. Im Gegenteil. Oft habe ich äußerst schlechte Zeiten durchlebt und habe auch gehungert in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes. Dieses ganze Leben hat meinen Charakter gestärkt. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass man sich ruhig ans Werk machen und von vorn wieder anfangen muss, auch wenn alles verloren ist oder verloren scheint. […] Man muss immer über der Umwelt stehen, in der man lebt, aber ohne sie zu verachten oder sich überlegen zu fühlen. Man muss verstehen und überlegen und nicht heulen.«
(Antonio Gramsci an Carlo Gramsci aus dem Untersuchungsgefängnis Mailand)
26. März 1928
»Gegen mich wurde keine konkrete Anschuldigung vorgebracht, die sich auf Beweise von Dokumenten und Zeugenaussagen stützen würde. Es sind vier Polizeibeamte, die behaupten, ich sei für alles Übel, das 1926 in Italien passierte, verantwortlich. Auch für die schlechte Ernte.«
(Antonio Gramsci an seine Mutter aus dem Untersuchungsgefängnis Mailand)
19. Dezember 1929
»In jeder Situation denke ich an die schlechteste Möglichkeit, um alle Willensreserven zu mobilisieren und imstande zu sein, das Hindernis zu beseitigen. Ich habe mir nie Illusionen gemacht und erlitt niemals Enttäuschungen. Insbesondere habe ich mich immer mit grenzenloser Geduld gewappnet, die nicht passiv, untätig war, sondern durch Beharrlichkeit belebt war. – Sicherlich, heute erleben wir eine sehr schwere moralische Krise, aber in der Vergangenheit gab es noch sehr viel schwerere.«
(Antonio Gramsci an Carlo Gramsci aus dem Gefängnis in Turi)
Aus der Einleitung der Herausgebenden:
Wie dieses ganze Material gerettet, zum Teil aus Moskau evakuiert, von den russischen und den italienischen Familienangehörigen an das Gramsci-Institut in Rom gegeben, zunächst von Togliatti gesammelt und wohl dosiert nach und nach veröffentlicht, im Institut deponiert und schließlich ediert wurde, ist eine fast unwahrscheinliche, abenteuerliche Geschichte, zu der, nicht weniger aufregend, auch die Geschichte seiner unterschiedlichen Interpretation und der ihr zugrunde liegenden Interessen gehört.
Die jetzt komplett vorliegende kritische deutsche Ausgabe von Gramscis Gefängnis-Korrespondenz folgt der leitenden Idee der im Entstehen begriffenen »Edizione Nazionale«, das Netzwerk menschlicher und intellektueller Beziehungen freizulegen und zu dokumentieren, das sich immer mehr zu einer Kunst des Widerstandes gegen ein totalitäres Regime entwickelt hat.
Unsere Ausgabe der Gefängnisbriefe Gramscis knüpft an die Versuche an, erstmals durch Einbeziehung der Korrespondenzen der Briefpartnerinnen und Briefpartner die private und politische Welt Gramscis zusammenzubringen. Die Übersetzungen der Briefe der sardischen Familie sind ausnahmslos Transkripte der im Gramsci-Archiv vorliegenden Original-Briefe.
Die GEFÄNGNISBRIEFE erscheinen in Kooperation mit dem Cooperative-Verlag und dem Institut für kritische Theorie.