Beschreibung
Autoren aus Russland und Deutschland würdigen im vorliegenden Sammelband die Leistungen Rjazanovs als Herausgeber der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe. In 18 Aufsätzen und neun Komplexen mit erstmals publizierten Dokumenten aus Moskauer Archiven werden sowohl die Bedingungen für die Veröffentlichung der MEGA im historischen Spannungsfeld zwischen Wissenschaftlichkeit und Stalinschen Machtanspruch als auch die Schicksale von mit Rjazanov zusammenarbeitenden Gesellschaftswissenschaftlern deutlich.
Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen, persönliche Korrespondenzen, Berichte an die Komintern sowie Direktiven der KPdSU(B) spiegeln den komplizierten Entstehungsprozess der MEGA wider. Sie erscheint durch den hier vorgestellten Prozeß intensiver internationaler Forschungsarbeiten und der sie tragenden Akteure in neuem Licht.
Rjazanov war es, der am 7. Juli 1924 auf der 30. Sitzung des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale die Notwendigkeit einer vollständigen Veröffentlichung der Werke und Briefe von Marx und Engels begründete. Nur eine derartige Ausgabe könne die Grundlage zu einem allseitigen Studium der Geschichte, der Theorie und Praxis des Marxismsus bilden. In der Resolution des Kongresses werden alle Parteien aufgefordert, bei der Sammlung von auf Leben und Wirken von Marx und Engels bezüglichen Materialien nach Möglichkeit behilflich zu sein.
1927 konnte endlich der erste Halbband der MEGA erscheinen. Die Bände entsprachen international gehandhabten Editionskriterien, in einigen textdarbietenden und kommentierenden Fragen gingen sie darüber hinaus. Rjazanov begründete damit für die literarische Hinterlassenschaft von Marx und Engels eine neue Tradition historisch-philologischer Edition.
In etlichen Beiträgen wird gezeigt, dass Rjazanov es verstand, Wissenschaftler aus dem In- und Ausland unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit für das Editionsprojekt zu gewinnen. Er und sein Marx-Engels-Institut genossen internationale Anerkennung. Viele Wissenschaftler äußerten sich begeistert über die Arbeitsmöglichkeiten in dieser Einrichtung. Rjazanov wird auch als schillernde Persönlichkeit charakterisiert. So brachte Georg Lukacs zum Ausdruck, dass er ein exzentrischer Mensch, aber außerordentlich gebildet und ein wirklicher Marx-Kenner gewesen sei (Gelebtes Leben. Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt/M. 1981, S. 143).
Nach Rjazanovs Ablösung als Direktor wurden die Kontakte des Instituts zum Ausland auf wenige beschränkt. Die Durchsetzung stalinistischer Ideologie Mitte der 30er Jahre und die damit verbundenen Repressalien gegen Mitarbeiter des Marx-Engels-Lenin-Instituts führten letztlich zum Abbruch der MEGA. Die Dokumentation und Kommentierung dieser Zäsur ist ein zentrales Thema des Bandes.
Einige der Beiträge wurden am 7. Juni 1995 auf einer wissenschaftlichen Konferenz anläßlich des 125. Geburtstages von Rjazanov vorgetragen. Die Veranstaltung fand im Saal des Kominterngebäudes und ehemaligen Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU in Moskau statt, eben jenem Saal, in dem im Februar 1931, kurz nach seinem 60. Geburtstag der Bann über Rjazanov gesprochen worden war. Wilhelm Pieck, Vertreter der KPD in der Komintern, hatte sich seinerzeit sehr befriedigt gezeigt; schließlich hätten ja alle gewußt, dass Rjazanov die Bolschewiki nicht liebt und dass er immer mit sehr deutlicher Absicht erklärte, dass er kein Leninist, sondern Marxist sei. […] Nun ist ihm dieses Handwerk gelegt worden. Im Marx-Engels-Institut wird noch eine gründliche Reinigung notwendig sein. (Zit. nach David Rjasanow. Marx-Engels-Forscher Humanist Dissident, hrsg. v. Volker Külow u.a., Berlin 1993, S. 251.) Rjazanov wurde nach Saratov verbannt und 1938 erschossen. 1958 juristisch rehabilitiert, blieb er in der UdSSR eine persona non grata. Seine Parteimitgliedschaft wurde 1989 und seine Mitgliedschaft in der Akademie 1990 wiederhergestellt.
Die Herausgeber danken allen an der Entstehung dieses Sonderbandes Beteiligten für ihre freundliche Unterstützung, insbesondere dem Russischen Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten zur neuesten Geschichte, dem Russischen unabhängigen Institut für soziale und nationale Forschungen, dem Hoover Institution Archives, dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte, der Tohoku-Universität Sendai und der Hosei-Universität Tokio, deren Archivbestände für die Dokumentation genutzt werden konnten.