Beschreibung
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Vorliegendes Heft wendet sich in tragenden Beiträgen Marxschen Quellen zu, einem Thema, das immer schon im Konflikt der Rezeptionslinien eine maßgebliche Rolle spielte, aber logischerweise auch stets Kalkül editorischer Überlegungen war. Während z.B. Lenin 1913 in einer Gelegenheitsschrift zum 30. Todestages von Marx den Marxismus auf »drei Quellen und drei Bestandteile« zuspitzte, dabei die deutsche Philosophie, die englische politische Ökonomie und den französischen Sozialismus zum »Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert … hervorgebracht hat«, ernannte (LW 19, 4), überlegten etwa zeitgleich die Austromarxisten M. Adler, K. Renner, A. Braun, O. Bauer, R. Hilferding und G. Eckstein sowie der Russe D. B. Rjazanov in Kenntnis der tatsächlichen, zumal selbst auch darin groß geworden, pluralistischen Entwicklungsmechanismen von Wissenschaft, wie der Marx/Engelssche Nachlass durch eine umfassende Edition in seiner Vielfalt allgemein zugänglich gemacht werden könnte. Natürlich war Lenins und vieler anderer Kenntnis über Marx wegen eigener wissenschaftlicher Studien viel umfassender und differenzierter, als es nach den wenigen, überwiegend zu Lebzeiten von Marx und Engels herausgegebenen Schriften, vor allem dem »Kapital«, sowie dem auch erst 1913 von A. Bebel und E. Bernstein veröffentlichten, mit Rücksicht auf noch lebenden Zeitgenossen allerdings selektierten Briefwechsel zwischen Marx und Engels schien. Mit der in den 20er Jahren durch Rjazanov begonnenen ersten, annähernd historisch-kritischen Marx/Engels-Edition, damit verbundenen Erstveröffentlichungen, z.B. der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«, der »Deutschen Ideologie«, der »Dialektik der Natur« und »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie«, sowie der Beschreibung von Exzerpten wurde auch für breite Kreise die materiale Grundlage geschaffen, weitere von Marx behandelte Wissensgebiete und Quellen zu thematisieren. Die Ironie des Geschehens: In dem Land, das die editorischen Voraussetzungen für eine breite Quellenerschließung von Marx schuf, wurde obige Feststellung von Lenin zuallererst zur Lehr- und Leerformel. Lenins doppelsinniger Aphorismus bei seiner Hegel-Lektüre – eine wichtige Quelle wie Grenze Marxens benennend – wurde nicht ernst genommen: »Man kann das Kapital von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!!« (LW 38, 170). Die Erschließung von Quellen und Grenzen von Marx‘ Wissenschaftsverständnis erfordert die Kenntnis seines gesamten Nachlasses: der Werke, Schriften/Artikel, Manuskripte, des Briefwechsels, aber auch seiner Exzerpte und Notizen, der Marginalien in den Büchern seiner persönlichen Bibliothek. Dieser „Montblanc“ an Quellen und Fakten ist bis heute nicht erstiegen, gerade auch editorisch nicht. Im vorliegenden Heft werden diesbezüglich weitere interessante Dokumente aus der Geschichte der ersten MEGA veröffentlicht. Sie zeigen, daß die Editoren und ihre westeuropäische Korrespondenten sich abseits ihrer ideologischen Umfelder zu bewegen kaum in der Lage waren, dass es bei der späteren zweiten MEGA auch zwischen den Bearbeitern einschneidende Meinungsverschiedenheiten um die beste editorische Lösung gab, dass um Fragen gestritten wurde, die auch heute noch diskutiert werden, z.B. das Auffächern der Edition in vier Abteilungen, die Zuordnung der Exzerpte, der Kompetenzstreit zwischen den Abteilungen. So stellte Paul Weller bereits 1935 fest, dass »der einzige Ausweg aus dem jetzt angerichteten Wirrwarr der sei, eine wirkliche gründliche Beschreibung und den sorgfältigen Abdruck aller Exzerpte in einer zu schaffenden Abteilung IV der MEGA zu veranstalten« (siehe vorl. Bd., S. 206). Nicht unerheblich zu erwähnen die bei Weller unverblümte, anderen Dokumenten immanente Kritik an der wissenschaftsgeschichtlichen Qualifikation der Editoren, die auch später nicht dem Niveau des Editionsgegenstandes entsprach. Mit dem Fortschreiten der zweiten MEGA, – bisher sind 48 Bände erschienen, darunter eine Vielzahl vor allem aus der II. und IV. Abteilung mit Erstveröffentlichungen Marxscher Handschriften, sowie 8 Briefwechselbände -, kann die Debatte über Quellen, Inspirationen wie Begrenzung des Marxschen Wissenschaftsverständnisses auf immer breiterer Basis geführt werden. Der sich daraus ergebende Wunsch nach vollständiger Herausgabe literarischen Nachlasses ist keine einsame Überlegung. Im Wissen um den wissenschafts- wie zeitgeschichtlichen Wert aller Nachlassteile erweitern germanistische und philosophische Werkausgaben ihr Editionsprogramm: ob nun Arnim, Heine, Jean-Paul, Pestalozzi, Wieland, Feuerbach (jeweils Briefwechsel) oder Büchner, Schleiermacher (Lebenszeugnisse) und Feuerbach, Schelling, Varnhagen (handschriftlicher Nachlaß, Tagebücher, Aufzeichnungen, Entwürfe). Auch die Privatbibliotheken mit ihren vielfältigen Lesespuren (Marginalien) rücken immer mehr in die Aufmerksamkeit der Editoren, deren Anliegen es sein sollte, »diese Art von aneignender und antwortender Lektüre und die Formen, in denen sie publiziert und damit literarische institutionalisiert wird« (U. Isselstein, Turin) in einer möglichen und sinnvollen Form abzudrucken. Alles in allem legt der internationale Vergleich nahe, das Editionsprogramm der MARX-ENGELS-GESAMTAUSGABE nicht einseitig als lean edition zu realisieren, sondern all das zu veröffentlichen, was Quellen und Grenzen von Marx‘ Wissenschaftsverständnis ausmacht. Das vorliegende Heft kann keine vollständigen, zusammenfassenden Antworten anbieten, jedoch die Diskussion zu diesem wissenschaftlichen und editorischen Anspruch herausfordern.